Sieht professionell aus (Eveline Blohmer ganz vorne rechts). Weitere Eindrücke gibt es in unserer Bildergalerie. Foto: Lichtgut

In einer Serie üben sich die Redaktionsmitglieder in längst aufgegebenen Hobbys. Diesmal ist Eveline Blohmer an der Reihe, die sich bei der TSG Degerloch an ihre Zeit als Karateka erinnert. Nur leider kann sie nicht mal mehr den Gürtel allein binden.

Degerloch - Aus dem Mitgliedsausweis des Deutschen Karateverbands blickt mich eine Zwölfjährige an. 20 Jahre liegen zwischen der Aufnahme und dem, was mir heute aus dem Spiegel entgegenschaut. 20 Jahre, die so schnell vergingen, wie ein Oi-Zuki ausgeführt und die Faust damit am Körper des Gegners angekommen ist.

Eine girlie-atypische Sportart

Wir schreiben das Jahr 1995. Die Milchbubis von Take That treiben die Mädchen reihenweise in die Heiserkeit. Ich höre heiseren Stimmen lieber zu: In meinem CD-Player werden die aktuellen Charts höchstens durch „Self Esteem“ von The Offspring repräsentiert. Der Schriftzug der Band prangt auch auf meinem ledernen Schlampermäppchen – und ein paar Zentimeter entfernt der sinnige Spruch: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.“ Dass ich eine möglichst girlie-atypische Sportart ergreife, ist also nur folgerichtig. Dass ich mich 1995 gemeinsam mit meiner Mutter zum Karate beim KJC Ravensburg anmelde, ist dem Umstand geschuldet, dass ich eben doch ein Mädchen bin.

Als ich an diesem Abend zwei Jahrzehnte später das Dojo (Trainingsraum für Kampfkünste) der TSG Degerloch betrete, hätte ich denn auch gern meine Mama da. Ich habe Angst, dass ich während des anderthalbstündigen Trainings konditionsbedingt das Zeitliche segne. Die Jahre gingen nicht genussmittelfrei an mir vorüber, und schon das bloße Denken an die Trainingsstunden mit dem damaligen Bundestrainer Günther Mohr lässt mich außer Atem geraten.

Zudem fürchte ich mich ein wenig davor, dass ich mich barfüßig und blaubegürtelt blamiere. Gegen diese Furcht hilft immerhin der Gedanke an den Pokal, den ich 1997 für den zweiten Platz beim Karate Sommer-Shiai bekam. Im Kumite war ich gut, der freie Kampf einer gegen einen lag mir. Außerdem fand ich den Mundschutz, der dabei die von einer Zahnspange geformten Zähne schützen sollte, extrem cool. Und der Brustschutz, nun ja, ließ einen aussehen wie mindestens fünfzehneinhalb.

73-jähriger Trainer mit sechstem Dan

Viel größere Sorgen als der freie Kampf, auf den ich mich vor dem Trainingsbeginn einstelle, macht mir das Laufen einer Kata. Die festgelegten Bewegungen, die den Kampf gegen einen imaginären Gegner oder derer mehrere darstellen, sehen zwar schön aus, werden sie von Könnern ausgeführt. Aber ich tat mir schon früher schwer, mir die Choreografie einzuprägen. 18 Jahre, nachdem ich den Karate-Gi an den Nagel hängte, dürfte also rein gar nichts mehr davon abrufbereit sein in meinem kongruent zu Gesicht und Körper gereiften Hirn. „Das ist wie Fahrradfahren, da ist man schnell wieder drin“, meint Rudi Morgenstern, Abteilungsleiter Karate bei der TSG. „Man muss sich nur darauf einstellen und sich sagen: ,Ok, ich mache das jetzt mal‘“, sagt der 73-jährige Träger des sechsten Dans, also des sechsten von insgesamt neun möglichen schwarzen Gürteln, bevor er mich zum Umziehen schickt.

„Ok, dann mache ich das jetzt mal“, sage ich zu mir und schlinge mir den blauen Gürtel um die Hüften. Er steht für den fünften Kyu-Grad, das heißt, den weißen, gelben, orangenen und grünen Gürtel habe ich durch Prüfungen hinter mir gelassen. Wollte ich den ersten schwarzen Gürtel (erster Dan), müsste ich mir noch einen weiteren blauen und drei braune erarbeiten. Allein: Ich weiß noch nicht einmal mehr, wie man das Teil richtig bindet. Als stünde ich vor einem Fahrrad und wüsste nicht, wo draufsitzen, stehe ich in der Umkleidekabine. Glücklicherweise kommt gerade eine andere Karateka herein und hilft mir bei dem Knoten, der vor allem Nicht-Krawattenträgern durchaus komplex erscheinen dürfte.

Ob ich denn nach so vielen Jahren überhaupt noch dazu berechtigt bin, den blauen Gürtel zu tragen, hatte ich Rudi Morgenstern im Vorfeld gefragt. Er hatte bejaht: „Den haben Sie sich ja tatsächlich mal erworben.“ Trotzdem fühle ich mich wie ein Hochstapler, als sich, wie es zum Begrüßungsritual gehört, die 13 Karateka und ich vor Meister Morgenstern von links nach rechts nach aufsteigendem Kyu-Grad aufstellen. Linkerhand stehen zwei mit dem siebten Kyu, und die können ihre orangenen Gürtel sicher selber binden. Ganz zu schweigen von den japanischen Begriffen, mit denen Sensei Morgenstern nun die Begrüßung anleitet. „Mokuso!“, sagt Morgenstern und meint damit, die Karateka sollen die Augen schließen und meditieren.

Übersetzung und Abgucken helfen nicht viel

Der Befehl kommt mir bekannt vor, doch erst der Blick zu den anderen bringt letzte Gewissheit. So wird es mir in den folgenden 90 Minuten ständig gehen. Irgendwo tief drin in meinem Kopf wabern die Karate-Vokabeln durcheinander. Doch wenn die Bedeutung nicht Augenschließen ist, sondern eine kompliziertere Bewegung zeitigen soll, helfen auch die Übersetzung und das Abgucken nicht viel.

So stehe ich, als es nach der Erwärmung an die Techniken geht, bisweilen ziemlich ratlos da. Rudi Morgenstern sieht die Fragezeichen in meinem Blick und gibt sich alle Mühe, mein Muskelgedächtnis zu aktivieren. „Mae-geri“, sagt er beispielsweise und führt den Fußtritt nach vorne vor, den es fünfmal hintereinander zu machen gilt. Einzelne Fußtritte sind dann auch nicht das Problem. Bei den Fußtritten beginnt mein Muskelgedächtnis eh, in Erinnerungen zu schwelgen. Aber gerade, als ihm wieder einfällt, dass es große Freude macht, beim Mawashi-geri einen Halbkreis mit dem Fuß zu beschreiben, hat der Spaß ein Loch.

Wir sollen uns paarweise zusammenfinden und uns mit festgelegten Techniken angreifen beziehungsweise den Angriff abwehren. Zu dem Problem, dass mir die Begriffe für die Techniken nicht mehr geläufig sind, kommt nun das erwartungsvoll dreinblickende Augenpaar meiner Gegnerin. Sie weiß nichts von meiner Auszeit und flüstert mir zu, was zu tun ist – unter Verwendung der japanischen Fachbegriffe. In meinem Kopf zukit, uchit, uket und dachit es nur noch. Wieder kommt mir Morgenstern zu Hilfe, stellt sich neben uns und zeigt mir die Bewegungen noch mal. Und noch mal. Und noch mal. Wie sich nämlich herausstellt, ist nicht nur mein Gehirn mit dem Karate-Glossar überfordert, sondern auch meine Gliedmaßen von mehr als einer Technik hintereinander. „Macht nix, macht nix!“, zischt Morgenstern immer wieder, während er mir meine Arme und Beine der jeweiligen Technik entsprechend hindrapiert. Und auch meine Übungspartnerin meint tröstend, dass für eine so lange Auszeit doch noch einiges da sei.

Eine richtige Frauenrunde

Mir ist meine schwache Leistung trotzdem unangenehm. Ich bin nicht leer, wie es das Kara im Karate vom Kämpfer verlangt. Ich bin ehrgeizig. Aber ich weiß auch, wo meine Grenzen liegen. Ein Girlie war ich nie, und ein zwölfjähriges Gör bin ich nicht mehr.

Das scheint auch mein Partner beim anschließenden Randori, dem freien Üben von Kampfbewegungen, erkannt zu haben. „Das war jetzt ja eine richtige Frauenrunde für mich“, meint er nach meinen bewusst zaghaften Angriffen. Doch bevor ich ihm zeigen kann, was meiner Meinung nach wirklich den Titel Frauenrunde verdient hätte (erwähnte ich bereits, dass ich ehrgeizig bin?), ruft Morgenstern „Yame!“ und damit das Ende der Übung aus.

Gleich ist die Reanimation eines alten Hobbys vorbei. 1997 waren es andere Möglichkeiten zur Coolness-Demonstration, die das Karate aus meinem Leben verdrängten. Sie hatten leichtes Spiel: Es war schlicht nicht mein Sport. Und er wird es nie mehr werden – trotz der dankenswerten Bemühungen der TSG-Truppe.

Zum Abschluss des Trainings wird sich gedehnt. „Jetzt mit der Hand die Zehen umfassen“, sagt Morgenstern. Das verstehe ich. Und das kann ich. Wer das jetzt aber meinen beiden X-Chromosomen zuschreibt, bekommt von mir eine Frauenrunde, die sich gemawashit hat.

Anfängertraining

Die Karate-Abteilung der TSG Degerloch bietet einen Anfängerkurs für Jugendliche und Erwachsene an. Trainiert wird dienstags von 20.15 bis 21.45 Uhr in der Sporthalle der Schwabschule, Bebelstraße 17. Weitere Informationen gibt es bei Oliver Schwarz unter der Nummer 01522/2 82 98 11 oder im Internet unter www.karate-stuttgart.de.