In frühen Jahren lernt sich vieles leichter als im Erwachsenenalter. Trotzdem bilden sich viele Menschen im Südwesten auch noch im hohen Alter weiter Foto: dpa

Jeder siebte der 18- bis 64-Jährigen in Deutschland kann nicht richtig lesen und schreiben. Bund, Land und Kommunen wollen Betroffenen mit neuen Angeboten helfen, das zu ändern.

Stuttgart - Eine Reihe ba, eine Reihe be, eine Reihe bi: Sorgfältig schreibt Ayse M. (Name geändert) die Silben auf ihr Arbeitsblatt. Noch geht es langsam voran, aber die 59-Jährige ist guten Mutes. Sie freut sich darauf, dass sie Straßenschilder und Busfahrpläne irgendwann selbst entziffern und eines Tages sogar ihren Enkeln vorlesen kann. „Es ist gut, dass es diese Kurse gibt“, sagt die sechsfache Mutter, die seit Jahresbeginn im Stuttgarter Elternseminar lernt.

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Als junge Frau war Ayse nach Deutschland gekommen, hatte sich um Kinder und Haushalt gekümmert und zeitweise mit schlecht bezahlter Arbeit noch etwas hinzuverdient, damit die Familie über die Runde kam. Da blieb fürs Deutschlernen und erst recht für die lateinische Schrift weder Zeit noch Kraft. Wenn ihre Kinder Briefe aus der Schule mitbrachten, ließ sie sich von ihrem Mann oder einer deutschen Nachbarin die Informationen geben. In der Türkei hatte sie nur wenige Jahre lang die Schule besucht. Wie viele Mädchen auf dem Land sollte sie ihrer Mutter bei der Hausarbeit helfen.

Doch jetzt will Ayse durchstarten. Seitdem die Kinder aus dem Haus sind und ihr Mann verstorben ist, hat sie erstmals Zeit für sich. Jetzt merke sie auch, wie eingeschränkt sie sei, weil sie sich beispielsweise in der Stadt schwer allein zurechtfinde und beim Einkaufen nicht lesen könne, was auf den Verpackungen stehe, erzählt sie in gebrochenem Deutsch. Ihre Familie unterstützt das.

Einige waren nie in der Schule

Solche Lebensläufe sind Sermin Can bestens vertraut. Die Lehrerin gibt seit vielen Jahren Deutschkurse für Einwanderer. Beim Elternseminar Stuttgart unterrichtet sie seit Jahresbeginn auch Frauen, die das Lesen und Schreiben lernen wollen. Einige von ihnen haben nur kurz eine Schule von innen gesehen, andere gar nicht. „Wer in der Kindheit das Lernen nicht gelernt hat, tut sich als Erwachsener sehr schwer damit“, sagt sie.

Analphabetismus ist nicht nur ein Problem von Einwanderern. 2011 schreckte eine Studie der Universität Hamburg viele Verantwortliche auf: Etwa 2,4 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland können höchstens einzelne Wörter lesen und verstehen. Weitere 5 Millionen Menschen sind zwar in der Lage, einzelne Sätze zu lesen und zu verstehen, mit kürzeren Texten wie Arbeits- oder Gebrauchsanweisungen oder Beipackzetteln sind sie jedoch heillos überfordert. Damit sind beruflich und privat deutlich eingeschränkt.

Die Politik hat auf reagiert. Bund und Länder haben eine nationale Strategie zur Förderung der Alphabetisierung und Grundbildung vereinbart. Durch eine bessere Finanzierung – unter anderem mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds – , sollen Betroffene bis zum Jahr 2020 mehr und bessere Lernangebote erhalten. Zudem stellte das Bundesbildungsministerium insgesamt 20 Millionen Euro für das Förderprogramm „arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ bereit, das 2015 ausläuft. Mit dem Geld sollen die Alphabetisierung und Grundbildung in Betrieben gefördert und Trainer und Dozenten für diese Aufgabe qualifiziert werden.

Einschnitte im Leben oft Anlass

Nicht alle, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind, haben die Schule nur kurzzeitig besucht. Etwa die Hälfte habe einen Schulabschluss, einzelne sogar mittlere Reife oder Abitur, sagt Wolfgang Nagel, Projektmanager für Alphabetisierung und Grundbildung an der Volkshochschule Stuttgart, die seit Jahren Alphabetisierungskurse anbietet. Dass seit dem vergangenen Jahr höhere Zuschüsse fließen, komme den Betroffenen sehr zugute. Die Kursgebühren konnten gesenkt, die Unterrichtsstunden verdoppelt werden. Dadurch kommen sie schneller voran – was sich auch positiv auf die Motivation auswirkt.

Oft sind es Einschnitte im Leben, die jemanden dazu bewegen, sich aus der Deckung zu wagen: Etwa der Verlust der Person, die sich um alle Schreibangelegenheiten gekümmert hat. Jüngere entscheiden sich mitunter dafür, wenn ihre Kinder in die Schule kommen. Das ist ein wichtiger Schritt. „Wenn Mütter nicht lesen können, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihre Kinder es auch nicht richtig lernen“, sagt Nagel. Bei Vätern sei das Risiko etwas geringer. Manchmal verbauen sich Beschäftigte auch eine Beförderung. Sie können neue Aufgaben nicht übernehmen, weil sie dann lesen und schreiben müssten.

Durch die steigenden Anforderungen in der Arbeitswelt geraten gerade solche Mitarbeiter immer stärker unter Druck. Deshalb hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Baden-Württemberg kürzlich ein Projekt gestartet, das in einigen anderen Ländern bereits erste Erfolge zeigt. Die Gewerkschaft bildet Mentoren aus, die sich in ihren Betrieben für das Thema Grundbildung engagieren und Kollegen mit solchen Schwierigkeiten dabei unterstützen, den geeigneten Bildungsweg zu finden.