Eine gut gefüllte S-Bahn der Linie 6, morgens um halb Sieben. Foto: fotolia

Wer sich voll leer fühlt, kann sich immerhin mit philosophischen Fragen beschäftigen. Zum Beispiel: Sind die S-Bahnen eigentlich rappelvoll? Oder doch heillos überfüllt? Der Disput darüber wird politisch mit Vollgas geführt.

Ludwigsburg - Es ist eine philosophische Frage, sagen wir: ein Conditio Sine Qua Non, um zu wissen, ob man ein Optimist oder ein Pessimist ist. Ist die Kaffeetasse morgens um halb Acht halb voll oder halb leer? Logisch, dass sich die Politik täglich mit dieser Problematik befassen muss. Sind die Sport- und Fabrikhallen im Landkreis halb voll mit Flüchtlingen? Oder sind sie bereits halb leer, weil der Kreis bessere Behälter – Pardon: Unterkünfte – gefunden hat? Haben die Stadtwerke Bietigheim-Bissingen nach dem vernichtenden Bürgervotum voll Schiffbruch erlitten? Oder sind sie nur leer ausgegangen, weil sie ein paar Hunderttausend Euro für die Vorplanung verplempert haben?

Besonders in der Verkehrspolitik, wo es ja um Bewegung gehen sollte, wird über diese bewegende Frage diskutiert: Ist die Schwieberdinger Straße in Ludwigsburg wegen der Baustelle der Stadtwerke zur Rush-Hour voll? Oder wird man die B 27 zwischen dem Abzweig zum Monrepos und der Ausfahrt zum Breuningerland wegen des Staus halb im Leerlauf runterrollen können? Heikel wird es, wenn über die S-Bahnen diskutiert wird. Hier hat sich unlängst im Technischen Ausschuss des Kreistags ausgerechnet der Landrat Rainer Haas als Vollpessimist geoutet. Von „bedeutenden Menschen bei der Deutschen Bahn“ sei ihm berichtet worden, „dass man Null Interesse daran hat, mehr Menschen in den Öffentlichen Nahverkehr zu bringen“. Namentlich die S-Bahn sei kapazitätsmäßig „in den Hauptverkehrszeiten voll am Limit angelangt, da geht nichts mehr“, referierte Haas.

Tariferhöhungen? Halbgarer Käse!

Tarifsenkungen im Stuttgarter Verkehrsverbund VVS? Voll der halbgare Käse! Die Bahn als S-Bahn-Betreiber sitze da eher im Bremserhäuschen. Schließlich wolle man die proppenvollen S-Bahnen nicht noch weiter füllen. Besserung sei erst in Sicht, „wenn der Bau von Stuttgart 21 abgeschlossen ist“, zitierte der Landrat.

Doch dann kam die Überraschung: Zur alljährlichen feierlichen Erhöhung der Tarife ist nämlich auch der VVS-Geschäftsführer Thomas Hachenberger immer mit von der Partie. Und was tat er bei dieser ansonsten doch so friedlichen Feier? Er WIDERSPRACH dem Landrat. So etwas trauen sich normalerweise die Wenigsten. „Das mache ich normalerweise nicht“, bekannte er gleich. Aber dieses Mal fühle er sich gezwungen, für das schwer gescholtene Verkehrsmittel eine Lanze zu brechen. Die S-Bahnen seien „schon gut gefüllt“, aber noch nicht am Kapazitätslimit. Trotz heftigen Widerspruchs des Kassandrarufers Haas hielt Hachenberger an dieser Behauptung fest. „Wir zählen ständig die Fahrgäste und registrieren auch in den S-Bahnen noch Zuwächse“, behauptete er.

Warum ist die Strohgäubahn eigentlich keine S-Bahn mehr?

Jetzt fragt man sich als Leser zwangsläufig, was denn nun stimmt: Ist das Glas des Lebens noch halb voll oder schon halb leer? Ist die MHP-Arena mit den Terrakottakrieger-Nachbildungen noch halb leer oder schon halb voll? Und vor allem: sind die S-Bahnen im Landkreis knallvoll – oder heillos überfüllt? Aufklärung erhoffen wir uns vom politischen Träger der S-Bahnen: dem Verband Region Stuttgart. Die VRS-Pressesprecherin schlägt sich zunächst auf die Seite Hachenbergers. „Die pauschale Aussage, dass die S-Bahn am Rande ihrer Kapazitäten sei, trifft so sicherlich nicht zu“, teilt sie mit. Allerdings gebe es„auf einzelnen Linien, in einzelnen Zügen zur Spitzenzeit Engpässe“. Aha, hat Haas etwa doch das, was Juristen gemeinhin besonders wichtig ist: nämlich recht?

Doch beim Blick auf die beiden S-Bahn-Linien im Kreis, die S 4 (bis Marbach) und die S 5 (bis Bietigheim), kippt die Sache wieder. Scheußlich überfüllte Strecken, wahre Trassen der Ölsardinen, gibt es hier nicht – außer vielleicht . . . Ein Besuch der S 6 aus Richtung Weil der Stadt (Kreis Böblingen) gleicht früh morgens zwischen Korntal und Zuffenhausen dem Gang eines Kamels durch ein Nadelöhr. Aber Moment mal, liegt Korntal nicht auch im Landkreis? Und: fuhr die Strohgäubahn von dort früher nicht auch mal bis Zuffenhausen? Na, da müsste der Landrat als Chef des Zweckverbands Strohgäubahn vielleicht mal wieder in die Vollen gehen, oder?