Szene aus „Human Flow“ Foto: Biennale/Verleih

In seiner Dokumentation „Human Flow“ blickt der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei aus ungewohnter Perspektive auf die weltweiten Fluchtbewegungen.

Berlin - Zittrig und matt taumeln die Menschen aus dem Boot ans Ufer. Es ist dunkel, Windböen zerren an der nassen Kleidung. Helfer reichen jedem einen Becher mit Tee und eine dünne, gold schimmernde Wärmefolie. Bei aller Düsternis ist das Bild der in Aluminium gehüllten Neuankömmlinge am Strand der Insel Lesbos poetisch. Wüsste man nicht um die herben Bedingungen ihrer Ankunft, man könnte sie für kostbare Skulpturen halten.

Der chinesische Künstler Ai Weiwei wagt in seiner Dokumentation „Human Flow“ einen anderen, ungewohnten Blick auf die Flüchtlingskrise, die in Europa seit 2015 vor allem als Problemstellung für die Aufnahmeländer diskutiert wird. Bis heute beleuchten die Debatten vornehmlich die Bedenken und Sorgen der Bürger, Flüchtlinge könnten mit ihrer fremden Religion und Alltagskultur den Frieden, Wohlstand und die Sicherheit gefährden und dem Steuerzahler auf der Tasche liegen. Angela Merkels stolz zuversichtliche Sentenz „Wir schaffen das“ erhitzte viele Gemüter. In Frankreich und Ungarn fanden dagegen scharfe Reden von Populisten wie Marine Le Pen oder Viktor Orban offene Ohren: Die Grenzen zu schließen, Obergrenzen für Asylbewerber einzuführen, Geflüchtete in sogenannte sichere Herkunftsländer abzuschieben, schienen die probaten Mittel, um die heran rollende Flut von Menschen einzudämmen. Die Sorgen der von Krieg, Naturkatastrophen und existenzieller wirtschaftlicher Not Betroffenen blieben meist außen vor. Daran änderten auch die Nachrichtenbilder aus Städten wie Aleppo, Homs oder Damaskus nichts, von denen nach diversen Bombardements nicht mehr als Schrottwüsten übrig sind.

Ai Weiwei hat für seinen Film mit 25 Filmteams in 23 Ländern gedreht

Der seit 2015 in Berlin lebende Dissident Ai Weiwei hat selbst Unterdrückung und politische Gewalt erfahren. Aufgrund seiner regimekritischen Äußerungen wurde Weiwei 2011 in seiner Heimat inhaftiert, die chinesische Regierung ließ dessen Atelier abreißen und zog den Reisepass ein. Als Weiwei ihn 2015 zurück bekam, emigrierte er nach Deutschland, wo man ihm seit 2011 eine Gastprofessur an der Berliner Universität der Künste eingerichtet hat.

Während eines Urlaubs auf der Insel Lesbos wurde Ai Weiwei mit dem Leid anderer Flüchtlinge konfrontiert. Das Gesehene verarbeitete der 1957 in Peking Geborene nicht allein in Installationen wie „Laundromat“, einem Waschsalon, wo zurückgelassene Kleidungsstücke von Flüchtlingen aus Lagern in Idomeni sortiert, gewaschen und gebügelt wurden, sondern im Film „Human Flow“.

Ein immenses Projekt, an dem Weiwei mit insgesamt 25 Filmteams in 23 Ländern ein ganzes Jahr lang gearbeitet hat.

Es geht um aktuelle Fluchtbewegungen weltweit

Dabei ist vieles von dem, was Weiwei zeigt, schon oft gefilmt worden. Die verschlammten, völlig überfüllten Zeltlager an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn etwa. Aufgebrachte Menschen vor Stacheldrahtzäunen, an Stränden angeschwemmte Rettungswesten und Kinderspielzeuge, riskant überfüllte Schlauchboote. Doch Weiwei nimmt in „Human Flow“ ungewohnte Perspektiven ein, um das Elend Geflüchteter begreifbar zu machen.

Im Film geht es nicht nur um die bekannten Kriegs- und Krisenregionen des Nahen Ostens, sondern um aktuelle Fluchtbewegungen weltweit, die jedoch seltener in den medialen Fokus geraten. Derzeit sind 65 Millionen Menschen auf der Flucht, erklärt eine der zahlreich im Film eingeblendeten Schrifttafeln. Aus der Vogelperspektive blickt Weiwei auf die Fluchtrouten als mäandernde Ornamente. Mal kreuzt ein winziges Boot durch den riesigen Ozean, mal zieht ein Tross von ameisengroßen Wanderern durch eine weite Landschaft. Weiwei zeigt weiße Zeltstädte überpudert von gelbem Wüstensand. Die schiere Ausdehnung ist atemberaubend. Dazwischen mischt sich Weiwei mit der Kamera direkt unter die Menschen, taucht ein ins Gewusel der Erstaufnahmelager in verschiedenen Ländern, läuft ein paar Kilometer auf einem Trampelpfad durch Felder neben einer Gruppe her und spricht mit Asylsuchenden in Deutschland, Frankreich, Israel oder Jordanien.

Die Ursachenforschung kommt zu kurz

Oft sind es traurige Begegnungen: Eine Muslima berichtet mit dem Rücken zur Kamera von einer tiefgreifenden Perspektivlosigkeit. Vor Kummer wird der Frau übel, sie würgt. Weiwei schiebt ihr schnell einen Eimer hin. Ein Mann spricht weinend über den Tod mehrerer Angehöriger, zeigt Ausweisdokumente der Verstorbenen. Weiwei hört zu und gibt der Verzweiflung des Mannes Raum.

Dieser Wechsel aus maximaler Distanz und Nähe vermittelt über weite Strecken das Gefühl von überwältigender Hilflosigkeit. Mithilfe eingeblendeter Statements von Politikern, mit Zahlen und Fakten, versucht Ai Weiwei, die Bilder zu kontextualisieren, die globale Dimension der Flucht vor Augen zu führen. Nur die Ursachen der fluchtauslösenden Konflikte und Katastrophen kommen zu kurz. Wenn Politiker im Film davon sprechen, man müsse Fluchtursachen vor Ort bekämpfen, ist keine Rede davon, dass der europäische Kolonialismus mit seinen Spätfolgen und die Auswirkungen der modernen Wirtschaftsglobalisierung überhaupt Bedingung sind für einen Großteil der Probleme krisengeplagter Länder.

Weiwei will jedoch nicht belehren, er versucht vielmehr, die eigene Empathie für die Entwurzelten sichtbar zu machen, um so vielleicht das empathische Verhalten anderer zu fördern.

Human Flow. Deutschland 2017. Regie: Ai Weiwei. Dokumentation. 140 Minuten. Ab 6 Jahren.

Unter anderem am Donnerstag, 16. November 2017 im Delphi, Tübinger Straße 6 in Stuttgart.