Bogislav von Platen vor dem Stammbaum der Familie von Platen. Foto: dpa-Zentralbild

Weg mit dem Aktenstaub: Wer mehr über Opa und Oma wissen will, kommt im Internet schon ziemlich weit. Seit Kirchenbücher und andere Quellen online verfügbar sind, erlebt die Familienforschung einen Boom. Doch das hat auch noch andere Gründe.

Stuttgart - Es war so eine Laune. Nach dem Tod seines Vaters stöberte Christian R. in alten Familienunterlagen und stieß irgendwann auf den Namen Benz. Der Ururururgoßvater hieß also genauso wie der berühmte Autoerfinder und stammte auch aus demselben Nest bei Karlsruhe. Waren die am Ende verwandt? Nächtelang durchpflügte er das Internet – vergeblich. „Die waren bestimmt verwandt“, sagt er, „aber wie?“

So einfach lässt sich ein Promi-Stammbaum dann doch nicht pinseln. Dabei ist der Einstieg in die Familienforschung kinderleicht, seit immer mehr Quellen online verfügbar sind. „Vorher mussten Sie dafür in die Lesesäle kommen, das war für Berufstätige wegen der Öffnungszeiten schwierig“, sagt Clemens Rehm vom Landesarchiv Baden-Württemberg. Heute recherchiert man bequem am PC.

Für die Ahnenforschung ist das ein Jungbrunnen. „Früher waren die Interessenten meisten über 60, heute sind viele deutlich jünger“, sagt Rolf Sutter, wissenschaftlicher Leiter bei Pro Heraldica in Stuttgart, dem größten deutschen Dienstleister für Genealogie und Heraldik. Aktenstaub war gestern, es leben die digitale Datei – stimmt das?

Zum Teil schon. Kirchenbücher zum Beispiel, für Ahnenforscher meist die erste und wichtigste Quelle, sind schon weit gehend online verfügbar. So hat dieser Tage die Evangelische Kirche Deutschland das von Stuttgart aus verwaltete Portal „Archion“ freigeschaltet. 38 000 der alten Bände sind dort bereits einsehbar, 200 000 sollen es bis 2017 werden. Vielerorts reichen die zurück bis ins 17. Jahrhundert – entsprechend schwierig sind sie allerdings zu lesen.

Vielen Datenbanken bieten aber auch schon Namenslisten an, so dass man gezielt suchen kann. Häufig sind die Standesbücher – das sind Zweitschriften der Kirchenbücher für die staatlichen Ämter – bereits digital aufbereitet. Das Landesarchiv hat sich dazu mit FamilySearch zusammengetan, der größten genealogischen Organisation der Welt. Im Speicher der Mormonen in Utah sowie in zahlreichen ihrer Forschungsstellen schlummern über drei Milliarden Personen-Datensätze aus aller Welt.

Doch auch das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Die Fülle an privaten und staatlichen, kostenlosen und kommerziellen, lokalen und internationalen Online-Datenbanken für Genealogen ist kaum mehr zu überblicken. Die Vergangenheit lebt – vor allem die eigene.

Wo war Ur-Opa eigentlich im Krieg? Der börsennotierte US-Dienstleister Ancestry hat Millionen Militärakten eingescannt, um solche Fragen zu beantworten – zum Beispiel die deutschen Verlustlisten des Ersten Weltkriegs. Selbstredend gibt es die nicht kostenlos, doch das 100-Jahr-Jubiläum des Weltkriegsbeginns hat das Interesse daran noch einmal gesteigert.

Und mit welchem Schiff ist Großtante Gertrud ausgewandert? Auch die Passagierlisten von Hamburg und Bremen sind längst im Internet verfügbar. Und Wählerlisten. Und Adressbücher. Und Grabstein-Inschriften. Und Wiedergutmachungsakten. Die Bayerische Staatsbibliothek arbeitet übrigens mit Google zusammen, um alte Dokumente einzuscannen.

Das Problem scheint weniger der Mangel an Informationen zu sein als der Heuhaufen, in dem sich die Nadeln verstecken. Doch diese Detektivarbeit, glaubt man den Archivfachleuten, gewinnt immer mehr Freunde. Das aber liege nicht allein am Internet, sagt Sutter, ein international bekannter Genealoge und Wappenforscher: „Ich glaube, es hat sich auch im Bewusstsein der Menschen etwa geändert, sie sind traditionsbewusster geworden.“ Zweifellos hat die Besinnung auf das eigene Herkommen auch eine metaphysische Komponente. Sutter: „Man macht sich damit ein bisschen unsterblich.“

In Zeiten der Globalisierung suchten viele Menschen nach festen Bezugspunkten für ihre Identität, meint auch Historiker Rehm vom Landesarchiv. Das Interesse müsse dann gar nicht in einen klassischen Stammbaum münden: „Da geht es auch um Fragen wie: War mein Opa Nazi?“

Entsprechend groß ist mittlerweile das Angebot an Dienstleistern und Hilfsmitteln. Es gibt Hunderte Programme für Genealogie – bis hin zur App „MacStammbaum“ fürs iPhone. Wer den Markt überblicken will, kommt um die jährliche Leitmesse Rootstech in Salt Lake City nicht herum: 28 000 Besucher pilgerten im vergangenen Februar nach Utah.

„Die Digitalisierung macht uns sichtbarer, das ist ein Segen für die Archive und ihre Nutzer“, sagt Rehm. Doch so einfach, wie es manche Software-Hersteller versprechen, ist das Graben nach den eigenen Wurzeln dann auch wieder nicht. An der Oberfläche wird man schnell fündig, doch in der Tiefe ist’s duster. Mancher Möchtegern-Genealoge gibt schon entnervt auf, wenn er auf alte deutsche Kurrentschrift stößt.

„Wir bieten Lesekurse, und die werden auch gern angenommen“, sagt Andreas Neuburger vom Landesarchiv. Das Paradoxe an der Digitalisierung ist ja: Sie fördert offensichtlich auch die Beschäftigung mit den analogen Sammlungen. „Viele werden digital angefixt und befassen sich dann mit den Originalquellen in den Lesesälen“, sagt Neuburger. Wer tiefer in die Materie eindringen wolle, merke nämlich schnell, dass er mit Originalquellen arbeiten muss.

Doch dazu bedarf es Sitzfleisch. So mancher Besucher verlässt die Archive bitter enttäuscht, weil er erwartet hatte, dass er die gewünschten Textpassagen fein säuberlich kopiert erhält. „Wir weisen Ihnen den Weg, aber den Schatz müssen Sie schon selbst finden“, sagt Rehm.

Über Anrufe aus Amerika nach dem Muster: „Mein Opa ist aus dem 19. Jahrhundert aus Baden ausgewandert, bitte schicken Sie mir einen Stammbaum“, kann er ohnehin nur noch schmunzeln. Das ist dann ein Fall für professionelle Dienstleister wie Pro Heraldica. Was das kostet? „Das hängt ganz vom Aufwand ab“, sagt Sutter. Vierstellig wird es aber bestimmt.

Familienforscher helfen sich aber auch untereinander. Mehrere tausend von ihnen organisieren sich zum Beispiel im Verein für Computergenealogie, der auch Rechercheergebnisse seiner Mitglieder ins Netz stellt. Dafür gibt es mittlerweile spezielle Dateiformate.

Manche Zeitgenossen erhalten ihren Stammbaum aber auch ohne einen Finger zu rühren: Weil sie so berühmt sind, stürzen sich die Medien und Profi-Genealogen auf sie. So rief vor einiger Zeit der Londoner Bürgermeister Boris Johnson beim Stuttgarter Hauptstaatsarchiv an, weil er dem Gerücht nachgehen wollte, dass er weitläufig vom württembergischen König abstammt.

Der telegene Blondschopf kam sogar persönlich vorbei – mit Historikern und einem BBC-Fernsehteam im Schlepptau, das die Spurensuche im Lesesaal filmte. Die Vermutung der königlichen Verwandtschaft hat sich übrigens bestätigt: Boris Johnson, für manche der kommende Tory-Mann nach David Cameron, ist tatsächlich mit dem Haus Württemberg verwandt.

So weit ist das Projekt von Christian R. noch nicht gediehen. Um das fehlende Glied zwischen Carl Benz und Johann Georg Benz, seinem Urahn, zu finden, will er nun systematisch arbeiten. Ein bisschen Glück gehört auch dazu. Dann kann es sogar sein, dass sich neue Wege in die Vergangenheit auftun.

So konnte Pro Heraldica vor einigen Jahren bei einem Adeligen die Ahnenreihe bis zu Karl dem Großen zurückverfolgen. „Normalerweise sind wir eher belustigt über Leute, die solche Nachweise geführt haben wollen“, sagt Sutter. Aber da hat es geklappt – allerdings nicht am PC.