Noch eine Ausnahme: Ein muslimisches Grab auf dem Hauptfriedhof in Bad Cannstatt. Foto: Leif Piechowski

Mit dem Ende des Sargzwangs will die Landespolitik den Muslimen hier entgegenkommen. Sie sollen einen Grund weniger haben, ihre letzte Ruhestätte außerhalb des Landes zu suchen. Die praktischen Folgen dürften aber gering sein. Nur etwa drei Prozent der verstorbenen Baden-Württemberger mit türkischem Pass lassen sich bislang hier bestatten.

Stuttgart - Seltene Einmütigkeit herrscht in der Landespolitik. CDU, Grüne, SPD und FDP stimmen überein, dass das Bestattungsgesetz überarbeitet werden muss. Die Richtung hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) abgesteckt. Bei einem Besuch in der Türkei erklärte der Regierungschef im Oktober: „Solange sich Menschen nicht dort begraben lassen, wo sie gelebt haben, sind sie nicht voll integriert.“ Dass man sich hierzulande auf unterschiedlichste Weise bestatten lassen könne, nur nicht nach islamischem Ritus, sei für ihn unverständlich. Kretschmanns Ansage war unmissverständlich: „Das werden wir ändern.“

Genau das geschieht nun. Das Sozialministerium hat den vier Landtagsfraktionen in diesen Tagen ein Eckpunktepapier zukommen lassen, das Änderungen im Bestattungsgesetz vorsieht, darunter die Aufhebung der Sargpflicht. So sollen Muslime in Baden-Württemberg künftig nur in Leintücher gehüllt bestattet werden können, wie es in islamischen Ländern üblich ist. Die meisten anderen Bundesländer lassen dies bereits zu. Geändert werden auch die Bestattungsfristen. Bisher mussten zwischen Tod und Bestattung mindestens 48 Stunden verstreichen. Künftig sollen es nur noch 24 Stunden sein. Dies entspricht dem muslimischen Bestattungsritus, wonach Verstorbene möglichst rasch zu Grabe getragen werden sollen. Medizinisch betrachtet sei die 48-Stunden-Frist überholt, argumentiert das Sozialministerium. In der Vergangenheit diente sie dazu, einen Scheintod auszuschließen. Heute reichten dafür 24 Stunden.

Auf diese Punkte hatten sich zuvor bereits die vier Landtagsfraktionen geeinigt. „Menschen, die nicht einer christlichen Kirche angehören, aber in Baden-Württemberg heimisch geworden sind, sollen das Recht erhalten, nach den Bräuchen ihrer Kultur beigesetzt zu werden“, erklärten die Abgeordneten Wilfried Klenk (CDU), Bärbel Mielich (Grüne), Sabine Wölfle (SPD) und Jochen Haußmann (FDP) nach einer Expertenanhörung im Oktober. Angesprochen sind vor allem die rund 600.000 in Baden-Württemberg lebenden Muslime, von denen rund 430.000 einen türkischen Migrationshintergrund haben.

Eigene Infrastruktur für Überführung in die Türkei

Das stößt auf breite Unterstützung – angefangen von Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) bis hin zu den Kirchen und Migrantenorganisationen nach dem Motto: Auch das Kapitel Abschied gehört zur Willkommenskultur. „Integration darf nicht beim Friedhof aufhören“, meint beispielsweise der Städtetag.

Doch bisher endet sie dort. Das türkische Generalkonsulat in Stuttgart führt Statistik: Demnach werden aus dem württembergischen Landesteil jährlich knapp 600 Verstorbene mit türkischem Pass auf ihren Wunsch hin in die Türkei überführt. Nur 15 bis 20 Muslime mit türkischer Staatsangehörigkeit finden hier ihre letzte Ruhestätte – meist sind es Kinder. In Baden betrug das Verhältnis zuletzt 291 zu zehn. Viele wollen „unten begraben werden“, sagt Kazim Per, Vorsitzender des Verbands islamische Kulturzentren in Stuttgart. „Unten“, das ist die Türkei, wo die Wurzeln der ersten Einwanderergeneration liegen.

Für die Überführung gibt es eine eigene Infrastruktur. Dem Dachverband der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, kurz Ditib, ist ein „Zentrum für Soziale Unterstützung“ angeschlossen. Ziel dieses Vereins ist „die Beratung bei Todesfällen, die Organisation der Beerdigung und eine eventuelle schnelle und unbürokratische Überführung in die Heimat“. Die Formulierung „eventuell“ ist leicht untertrieben. Der bundesweit rund 530.000 Mitglieder zählende Verein beziffert die Zahl seiner verstorbenen Mitglieder mit rund 24.400. „Mehr als 99 Prozent der Verstorbenen wurden in die Türkei überführt“, teilt er mit. Die Kosten sind überschaubar. Zu Lebzeiten zahlen Mitglieder pro Jahr rund 50 Euro in eine Sterbeversicherung ein. Dazu kommt eine einmalige Versicherungsgebühr zwischen 60 und 500 Euro. Im Todesfall werden daraus Überführung und Bestattung in der Heimaterde bestritten inklusive eines Hin- und Rückflugtickets für ein Familienmitglied. „Die Bestattung in der Türkei ist deutlich billiger“, meint ein Sprecher des Sozialministeriums. Der Vorstandsvorsitzende der Ditib in Baden-Württemberg, Erdinc Altuntas, erklärt indes: „Die finanzielle Frage ist zweitrangig.“

Islam schreibt Erdbestattungen vor

Neben der Heimatverbundenheit und der Nähe zur Ursprungsfamilie spielt auch der Bestattungsritus eine Rolle, meint Kazim Per. Der Islam schreibt Erdbestattungen vor. Viele Muslime sähen es als problematisch an, „dass hierzulande die ewige Ruhe nicht gegeben ist“. Theoretisch gibt sie es schon. Doch anders als in der Türkei verlangen die deutschen Kommunen dafür Geld. Meist nach 20 Jahren endet auf den Friedhöfen das Nutzungsrecht. Dann müssen die Angehörigen entscheiden, ob sie das Grab für weitere 20 Jahre verlängern (Kosten in Stuttgart: 1660 Euro) oder aufgeben. Viele Muslime wollten nicht, dass ihre Nachfahren in diese Situation kämen, sagt der 44-jährige Per, der vor 15 Jahren aus dem türkischen Kayseri nach Baden-Württemberg kam. Auch er würde sich bei der Wahl seiner letzten Ruhestätte für seinen Geburtsort entscheiden.

Dennoch glaubt der Verbandsvorsitzende an einen allmählichen Wandel. „Die dritte und vierte Generation hat keine so starke Beziehung mehr zur Türkei. Sie wird sich mehrheitlich hier begraben zu lassen, wo ihre Familien und Freunde sind.“ Eine Zeitfrage also. „Wenn das muslimische Gräberfeld auf dem Stuttgarter Hauptfriedhof eines Tages mit 100 statt mit 50 Gräbern belegt ist, spricht sich das in den Gemeinden herum“, sagt Per. Auch der Ditib-Vorsitzende Altuntas meint, das Thema sei „noch nicht in den Köpfen drin“. Beide begrüßen sie die Änderungen als „Schritt, um Vertrauen zu gewinnen“.

Spielt der Wegfall des Sargzwangs dabei tatsächlich eine so große Rolle? Der Stuttgarter Bestattungsunternehmer Helmut Ramsaier, dessen Unternehmen mehr als 1000 Bestattungen von Muslimen und Überführungen vorwiegend in den arabischen Raum organisiert hat, bezweifelt dies. Ihm sei aus den vergangenen Jahren lediglich eine einzige Anfrage für eine Bestattung ohne Sarg bekannt. Dazu passt eine Zahl aus Berlin. Dort antwortete die Senatsverwaltung jetzt auf eine Anfrage des Linkspartei-Abgeordneten Hakan Tas nach den Auswirkungen des Wegfalls der Sargpflicht in der Hauptstadt vor zwei Jahren. Demnach hat es dort noch keine Bestattung im Tuch gegeben. Bestatter Ramsaier prophezeit für Baden-Württemberg Ähnliches: „De jure wird die Sargpflicht abgeschafft, de facto nicht.“ Auch der Vorsitzende der Bestatter-Innung, Christian Streidt, meint, der Sarg in der Praxis stelle kein Problem dar. Das Thema werde überbewertet.

Klar ist jedoch, dass die Änderung für alle gelten wird. Theoretisch können sich künftig also auch Nichtmuslime im Tuch bestattet oder verbrennen lassen. Öffnet man damit Billigbegräbnissen Tür und Tor? Bestattungsunternehmen wie Haller und Ramsaier halten diese Befürchtungen für unbegründet. Die Bestattungskosten reduzierten sich kaum. Oliver Hoesch, Sprecher der Evangelischen Landeskirche Württemberg, warnt angesichts der Zunahme von sogenannten Sozialbestattungen dennoch vor dieser Möglichkeit: „Das darf nicht passieren.“ Bestatter-Präsident Streidt kündigt vorsorglich an: „Sollten Ordnungsämter auf diese Idee kommen, gehe ich auf die Barrikaden.“