Der Mordanschlag auf Michèle Kiesewetter und Martin Arnold gilt als mysteriöseste Tat des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Sogar die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, Beate Zschäpe, hielt es für „eine unglaubliche Ausrede“, dass die beiden Polizeibeamten nur deshalb erschossen wurden, um sich funktionssicherere Waffen zu besorgen.

Am Donnerstag, 18. Februar, diskutieren die Abgeordneten des Landtages den Bericht, den ihre Kollegen zum Abschluss ihrer Recherchen zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) geschrieben haben. Etwa ein Jahr beschäftigten sich elf Parlamentarier in einem Untersuchungsausschuss mit den Fragen, welche Verbindungen die Mitglieder der mutmaßlichen Terrorgruppe nach Baden-Württemberg hatten, mit Fragen zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im April 2007 in Heilbronn, dem rassistischen Ku-Klux-Klan sowie dem Selbstmord des Neonazi-Aussteigers Florian Heilig im September 2013.

Reporter der Stuttgarter Nachrichten haben den 997 Seiten umfassenden Report, die Protokolle der Sitzungen des Untersuchungsausschusses sowie die ihnen vorliegenden Ermittlungsakten aus dem Verfahren gegen Beate Zschäpe und ihre mutmaßliche Unterstützer ausgewertet. Ihr Ergebnis: In seiner Absolutheit sind etliche Feststellungen des Ausschusses nachweisbar falsch.

Ungezählte Kontakte mit der rechtsextremistischen Szene

Der NSU-Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtages schließt sich der Ansicht des Generalbundesanwaltes an, nach der die beiden Polizisten nur die zufälligen Opfer der mutmaßlichen Rechtsterroristen waren. „Dem Ausschuss ist es ein Bedürfnis, ausdrücklich festzustellen, dass es in den gesamten Ermittlungsakten und auch bei seinen eigenen Vernehmungen keinen einzigen Anhaltspunkt dafür gefunden hat, dass Michèle Kiesewetter wie auch immer geartete Kontakte zur rechtsextremistischen Szene gehabt haben könnte“, schreiben die Parlamentarier in ihren Abschlussbericht, mit dem sich am heutigen Donnerstag der Landtag beschäftigt.

Die Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter hatte ungezählte Kontakte mit der rechtsextremistischen Szene. Nicht geklärt ist die Frage: Sind die wahrscheinlichen NSU-Mörder durch einen ihrer Einsätze auf die Polizistin aufmerksam geworden? Eine Frage, die sich offenbar auch die Abgeordneten stellten. Mit verwunderndem Ergebnis: „Im Fall der Beamtin Michèle Kiesewetter konnte der Ausschuss keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang mit früheren Einsätzen finden.“ Was das Gremium nicht erwähnt: Es gibt nicht einmal eine vollständige Liste der Kiesewetter-Einsätze mit Rechtsextremismus-Bezug, weil jene bei der Bereitschaftspolizei nicht erfasst wurden – folglich konnten sie auch nicht gezielt untersucht werden.

Abgesehen davon stellt sich die Frage, ob jemand, der im thüringischen Oberweißbach aufgewachsen ist, nicht zwangsläufig in Kontakt mit der rechtsextremistischen Szene geraten ist? Im Klassenzimmer, in Vereinen, bei Festen. Etwa 30 Kilometer entfernt liegt Saalfeld, ein Kristallisationspunkt der thüringischen und auch deutschen Neonazi-Szene, an dem die rechte Gallionsfigur Tino Brandt aktiv war. Brandt war Führer des Thüringer Heimatschutzes (THS). Um dessen Aktivitäten in der Region zu „ermitteln“, genügt ein Mausklick auf das Internet-Lexikon „Wikipedia“: „1996 bildete sich um Brandt der Deutsche Freundeskreis (DFK), dessen Hauptbetätigungsfeld die Rekrutierung und Vernetzung rechtsextremer Jugendlicher im Raum um Saalfeld und Rudolstadt war.“

Die rechten Barden von "I don't you"

Michèle Kiesewetter kannte den Bruder von Steve Kein näher: die beiden waren zusammen zur Schule gegangen - und hatten sich am Wochenende vor dem Mord in Oberweißbach getroffen. Das Städtchen im Thüringer Wald ist auch Heimat der Rechtsrock-Band „I don’t like you“, die von thüringischen Verfassungsschützern beobachtet wird. Steve Kein ist Frontmann der rechten Kombo, gibt in ihr den Ton an. Benannt haben sich die rechten Barden nach einem Liedtitel der Nazi-Kultband „Skrewdriver“. Deren Sänger Ian Stuart Donaldson gilt als Gründer des internationalen Neonazi-Netzwerks „Blood & Honour“, das über einen bewaffneten Arm verfügt – namens „Combat 18“. Die 1 steht für A, die 8 für H, die Initialen Adolf Hitlers.

Den Bruder Steve Keins hat der Ausschuss nicht befragt, Steve Kein auch nicht – diese Spur spielte für die baden-württembergischen NSU-Aufklärer gar keine Rolle. Unklar ist sogar, ob der Neonazi-Barde im Rahmen der NSU-Ermittlungen überhaupt einmal vernommen wurde: In den Ermittlungsakten findet sich lediglich eine polizeiliche Befragung vom 27. März 2012 – und bei dieser unterlag Steve Kein als „Befragter“ nicht der Wahrheitspflicht. So konnte Kein auch ruhigen Gewissens behaupten, „über eine richtige rechte Szene in Oberweißbach könne man nicht sprechen“.

Ähnlich äußerte sich auch Christian F. vor dem Untersuchungsausschuss: „Eine rechte Szene gab es da ja, wo ich jung war, nicht. Es sind halt Leute, die meinen, sie müssen rechts sein.“ Er ist in Oberweißbach als Nachbar Michèle Kiesewetters aufgewachsen und hielt mit ihr Kontakt. Fasching 2007, wenige Monate vor ihrem Tod, nahm sie ihn in ihrem Auto mit von Oberweißbach nach Baden-Württemberg. Hier lebt F. inzwischen.

Der Polizistin glauben die Abgeordneten nicht

Romy S., eine enge Freundin und Kollegin von Michèle Kiesewetter, berichtete, F. habe ihr bei einer Veranstaltung einen glatzköpfigen Mann vorgestellt, den er in der rechten Szene verortet habe. Bei der Polizei sagte F. dazu: „Ich kenne da viele Leute. Auch Leute, die mal Springerstiefel tragen, sind noch keine Rechten. Viele von diesen Leuten sind mittlerweile Väter und älter geworden.“

Romy S. bestätigte den Abgeordneten, dass Christian F. ihr zudem erzählte, dass er früher selbst „rechts unterwegs“ gewesen sei. Ausschussvorsitzender Drexler konfrontierte F. mit dieser Aussage. Der behauptete: „Ich war auf jeden Fall nie rechts unterwegs.“ Der Ausschuss glaubte ihm und nicht der Polizistin. Im Abschlussreport des Gremiums heißt es: „Der Zeuge F. hat glaubhaft versichert, zu keinem Zeitpunkt Mitglied der rechtsextremistischen Szene gewesen zu sein.“

Bis Anfang des Jahres 2007 – und damit bis ins Todesjahr von Michèle Kiesewetter hinein – betrieb David F. in Oberweißbach die Gaststätte „Zur Bergbahn“. Sie diente auch Rechtsextremisten als Veranstaltungsort. Der Kneipier war obendrein einmal mit Beate Zschäpe liiert. Inzwischen ist er der Schwager Ralf Wohllebens, der zusammen mit Zschäpe in München auf der Anklagebank sitzt.

Die Theorie vom Zufallsopfer

Dem Neonazi-Kneipier glauben die Abgeordneten

Vor dem Untersuchungsausschuss wurde David F. gefragt, ob er Kontakt zu Kiesewetter gehabt habe. Seine Antwort: „Kontakt nicht wirklich. Die Michèle Kiesewetter kannte ich gar nicht.“ Die Abgeordneten glaubten ihm die Behauptung, dass er „nicht wirklich“ Kontakt zu der Polizistin hatte. Im Abschlussbericht heißt es, der Zeuge habe – „insoweit durchaus glaubhaft – auch versichert, Michèle Kiesewetter nicht persönlich gekannt zu haben“. Der Ausschuss hält deshalb fest, dass er „einen Zusammenhang mit der Tat in Heilbronn nicht feststellen“ habe können.

Mit den Ermittlungen im Opferumfeld – also in Oberweißbach wie auch innerhalb der Polizei in Baden-Württemberg – waren die Abgeordneten zufrieden: Der Ausschuss habe diesbezüglich „keine Fehler durch die zuständigen Behörden feststellen“ können. Auch in der ersten Ermittlungsphase seien die Opferumfeldermittlungen „hinreichend intensiv“ gewesen.

Die LKA-Beamten, die 2009 die Ermittlungen im Fall Kiesewetter von ihren Heilbronner Kollegen übernahmen, dürften sich bei dieser Passage verwundert die Augen reiben: Ihre Nachermittlungen füllen Leitzordner. Kollegen von Kiesewetter und Arnold beschwerten sich in den Vernehmungen des LKA, dass sie erst jetzt, Jahre nach der Tat, vernommen würden. Überhaupt scheint das Opferumfeld „Bereitschaftspolizei“ nur oberflächlich ausermittelt worden zu sein. Erst Ende 2011 konnte der Beamte identifiziert werden, der seinen Heilbronn-Dienst am 25. April 2007 mit Kiesewetter getauscht hatte.

Die Theorie vom Zufallsopfer

Der Ausschuss geht – wie auch der Generalbundesanwalt – davon aus, Michèle Kiesewetter und Martin Arnold seien zufällig Opfer des NSU geworden. Der Anschlag habe sich gegen die Polizei gerichtet, die den Staat repräsentiert, den das rechtsradikale Trio um Beate Zschäpe bekämpfen wollte. Zschäpe sagte im Dezember aus, dass ihr die beiden Uwes gesagt hätten, sie hätten die Polizisten erschossen, um an deren Dienstwaffen zu gelangen. Auf Nachfrage des Gerichts konkretisierte die Hauptangeklagte im Münchener NSU-Verfahren im Januar, dass sie das nicht glaubt: „Ich glaube, dass die beiden mich angelogen haben, was ihre wahren Motive gewesen sind und tatsächlich etwas anderes dahintersteckte.“ Folgt der Ausschuss dem – wie es das Gericht tut -, steht er eher am Anfang als am Ende seiner Arbeit.

Zur Täterschaft von Mundlos und Böhnhardt führen die Abgeordneten einen Indizienbeweis an – schließen sicherheitshalber aber auch eine Beteiligung bislang unbekannter Dritter nicht aus.

Die Indizien der Parlamentarier: Ein Wohnmobil, das Böhnhardt unter falschem Namen angemietet haben soll, wurde nach der Tat in einer Ringalarmfahndung von zwei Polizisten registriert. Die Mordwaffen wurden im Brandschutt der Wohnung gefunden, die als letzter Unterschlupf des Trios gilt. Die beiden Dienstwaffen Kiesewetters und Arnolds lagen in dem Wohnmobil, in dem sich Böhnhardt und Mundlos im November 2011 in Eisenach selbst getötet haben sollen. An beiden Pistolen fanden Ermittler DNA-Spuren der beiden Rechtsextremen. Das Bekennervideo des NSU enthält Medienfotos vom Heilbronner Tatort und von einer der entwendeten Dienstwaffen. Hinzu kommt eine Jogginghose, an der Blutspuren Michèle Kiesewetters gefunden wurden. Die Hose befand sich in einem kaum verwüsteten Zimmer der Zwickauer Wohnung. In einer Tasche war ein Papiertaschentuch mit DNA-Spuren von Uwe Mundlos.

Tricksereien der Abgeordneten

Fehlende Belege

Bis heute fehlt allerdings ein Beleg dafür, dass die beiden Uwes überhaupt am Heilbronner Tatort waren. Würden alle Indizien als Beweise gelten, so wäre immer noch unklar, ob auch Uwe Böhnhardt am Tatort war – denn die Jogginghose wird ja seinem Freund Mundlos zugeordnet.

Nicht nur die Anklageschrift der Bundesanwälte wird in ihrer umstrittenen Thesen vom Untersuchungsausschuss unterstützt. Auch der Heilbronner Staatsanwalt Christoph Meyer-Manoras, der im Mordfall „Kiesewetter“ jahrelang erfolglos ermittelte. Der Ankläger hatte keines der Phantombilder veröffentlicht, die Fahnder mit Hilfe von Augenzeugen fertigten. Nicht einmal das Bild, das auf Basis der Aussagen des schwer verletzten Martin Arnold entstand. Der Phantombildzeichner des baden-württembergischen LKA meint im Rückblick, eine Ähnlichkeit des von ihm gefertigten Bildes mit Uwe Böhnhardt zu erkennen. Zu einem entsprechenden Bildervergleich zog er ein Foto von Böhnhard heran, das um das Jahr 2007 entstand – dieser Foto-Vergleich ist öffentlich nie gezeigt worden.

Meyer-Manoras glaubte jedoch nicht, dass sich jemand nach einem Kopfschuss an die Tat erinnern kann. Nach einem mehrstündigen Gespräch mit ihm, widerrief Arnold im Sommer 2011 alle seine früheren Aussagen – ab sofort konnte er sich nicht mehr erinnern.

Die Tricksereien der Abgeordneten

Der Ausschuss gibt Meyer-Manoras Recht: „Schließlich erfüllt auch das Phantombild des Geschädigten Martin Arnold die rechtlichen Voraussetzungen für eine Veröffentlichung nicht. Eine Erinnerungsfähigkeit des Geschädigten Martin Arnold ist zwar nicht unmöglich, aber nach Sicht des Ausschusses aufgrund der Schwere der Hirnverletzungen nahezu ausgeschlossen.“ Das Gremium begründet das in seinem Abschlussbericht: „Die vom Ausschuss vernommenen Sachverständigen Dr. Heinz-Dieter Wehner, Dr. Thomas Heinrich und Dr. Rudolf van Schayck sahen einhellig eine mögliche Erinnerungsfähigkeit von Martin Arnold als ausgeschlossen an.“

Wehner ist Gerichtsmediziner und hat bezüglich der Erinnerungsfähigkeit Arnolds gesagt: „Was man da rauskriegen kann, das ist die Kunst der Psychologen.“ Heinrich ist ein Facharzt, den Meyer-Manoras mit einem nervenärztlichen Gutachten zu Martin Arnold beauftragte. Heinrich sagte vor dem Ausschuss: „Es ist extrem unwahrscheinlich, dass er sich erinnern kann. Das Wort ,ausschließen‘ in der Medizin ist immer schwierig. Das kann man in seriöser Weise nicht tun.“ Van Schayck ist ein Neurologie-Facharzt und Klinik-Leiter, der Arnold behandelte. Er sagte: „Das ist denkbar und möglich, dass eine solche Erinnerung existiert und dass er auf deren Grundlage auch ein Phantombild erstellen kann.“

Der Ausschuss unterstellt den drei Sachverständigen eine Aussage, die sie nicht getroffen haben – ausgeschlossen hat keiner die Erinnerungsfähigkeit Arnolds. Aber: Meyer-Manoras hatte die Erinnerungsfähigkeit Arnolds in seiner ersten von zwei Aussagen vor dem Ausschuss zunächst ausgeschlossen, auf Nachfrage jedoch relativiert: „Mir reicht es, wenn ich es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weiß.“

Staatsanwalt mit Hang zur Metaphysik

Von der Grünen Petra Häffner darauf hingewiesen, dass diese Antwort aber beinhalte, dass es „eine Restmöglichkeit des anderen“ gebe, sagte Meyer-Manoras: „Die Restmöglichkeit, dass ein Ufo auf der Theresienwiese gelandet ist, grüne Marsmännchen ausstiegen und die Tat begangen haben, die Waffen mitgenommen haben, auch das lässt sich aus philosophischer Sicht nicht hundertprozentig verneinen.“

Nicht berücksichtigt hat der Ausschuss in seiner Beweiswürdigung, dass Meyer-Manoras in Schwierigkeiten hätte kommen können, wenn die Aussagen Arnolds bis heute als glaubhaft beurteilt worden wären. Denn der Staatsanwalt priorisierte bis 2009 die so genannte „Phantom-Spur“. Knapp zwei Jahre lang fahndeten die Ermittler nach einer „unbekannten weiblichen Person“, deren DNA-Spuren an den unterschiedlichsten Tatorten im In- und Ausland gefunden wurden. Letztlich stellte sich heraus: Bei der Spurensicherung hatten Fahnder an allen Tatorten Wattestäbchen verwendet, die bereits beim Hersteller durch die DNA einer Verpackerin verunreinigt worden waren. Bereits im Sommer 2008 hatte Martin Arnold in einer Hypnose-Vernehmung von zwei männlichen Tätern berichtet – also von keiner Täterin, die als Phantom infrage gekommen wäre.

Dennoch wurde die Phantomspur bis ins Frühjahr 2009 weiterverfolgt, wurden unzählige Speichelproben bei Frauen genommen. Mit der Erhebung dieser Speichelproben hatte Meyer-Manoras keine datenschutzrechtlichen Probleme, während er mit den Listen der Autokennzeichen aus der Ringalarmfahndung so vorsichtig umging, dass er die teils handschriftlichen Notizen nicht einmal in recherchefähige Computer-Tabellen erfassen ließ. Diese Grundlagenarbeit erledigte die LKA-Ermittler, nachdem sie 2009 die Sonderkommission übernommen hatten. Auf dieser Datenbasis konnte nach dem Auffliegen des NSU erst das Kennzeichen des Wohnmobils gefunden werden, das die beiden Uwes gefahren haben sollen.