Leonhardskirche in Stuttgart: Die Reihen lichten sich Foto: Peter Petsch

Mit interaktiver Grafik - Die beiden großen Kirchen in Stuttgart müssen herbe Mitgliederrückgänge hinnehmen und führen das hauptsächlich auf die Abgeltungsteuer zurück. Die Katholische Kirche verlor im Jahr 2014 1612 Gläubige. Die Protestanten sogar 3149 Mitglieder. Beide Stadtdekane sind über die Entwicklung besorgt.

Stuttgart - Eigentlich wollte Christian Hermes bei der Sitzung des Stadtdekanatsrats im großen Saal im Haus der Katholischen Kirche die Mitglieder über den Stand des Projekts Aufbrechen informieren. Doch dann kam alles anders. Die aktuellen Entwicklungen bereiteten ihm Sorgen. Also konfrontierte der Stadtdekan seine Zuhörer erst einmal mit ernüchternden Zahlen: Ende 2014 gab es nur noch 143 383 Katholiken in Stuttgart. Ein Jahr zuvor waren immerhin noch 145 000 Stuttgarter Mitglieder der Römisch-Katholischen Kirche – das entspricht einem Schwund von 1612 Gläubigen.

Noch schlimmer hat es die Evangelische Kirche in Stuttgart erwischt: Die Zahl der Kirchenmitglieder sank in einem Jahr von 158 704 um 3149 auf 155 555. Die Austrittswelle führt Christian Hermes auf das neue Verfahren zur Erhebung der Abgeltungsteuer zurück. Wer einer der großen Religionsgemeinschaften angehört, muss auch auf private Investments Kirchensteuer zahlen. Den betroffenen Anlegern wird der Obolus künftig automatisch vom Gewinn abgezogen und direkt ans Finanzamt überwiesen.

Nachdem die Banken ihre Kunden informiert hatten, dass der automatische Abzug der Kirchensteuer auf Zinsen bald beginne, brach eine bundesweite Austrittswelle los. Obwohl die meisten Sparer gar nicht betroffen sind. Denn bei Zinseinkünften von 801 Euro wird gar keine Steuer erhoben.

„Es ist in hohem Maße bedauerlich und ärgerlich, dass beide großen Kirchen es versäumt haben, rechtzeitig und offensiv über diese Änderung des Einzugsverfahrens zu informieren“, klagte Hermes. Während die Pfarrämter zu jeder drittrangigen Aktion umfangreiche Werbematerialien erhielten, habe es zu dieser hochbrisanten Thematik gerade einmal einen Flyer der deutschen Bischofskonferenz gegeben.

Betroffen zeigte sich auch Sören Schwesig, der Stadtdekan der Evangelischen Kirche in Stuttgart: „Das war auch bei uns ein Desaster, was die Kommunikation betrifft. Aber diese Zahlen schmerzen uns natürlich, und müssen für uns ein Warnzeichen sein.“ Die Evangelische Kirche will sich aber nicht frustriert zurückziehen. „Es war ein schweres Jahr, und wir müssen uns hinterfragen: Was mache ich draus?“, sagte Schwesig. Den seit Jahrzehnten stärksten Rückgang in Stuttgart führt der Protestant auch auf die große Bevölkerungsfluktuation in den Städten zurück. „Bei uns ist es schwerer, mit den Menschen in Kontakt zu treten, als im ländlichen Bereich, aber wir wollen uns bei den Leuten auch nicht anbiedern“, sagt Schwesig. Man könne aber jetzt nicht hingehen und sagen, das sei der Weg, um Menschen wieder für die Kirche zu begeistern.

Eine ähnliche Position vertritt Oliver Lahl, Pfarrer von fünf katholischen Gemeinden in Stuttgart und stellvertretender Stadtdekan. „Die Kirche ist im Alltag der Menschen nicht mehr verankert, und wir müssen ihnen deshalb in den verschiedenen Lebenssituationen begegnen“, sagt Lahl, der beispielsweise Gottesdienste in Kitas abhält oder im ökumenischen Zentrum in Neugereut auch sehr viel mit der Evangelischen Kirche zusammenarbeitet. „Aber das sind nur kleine Schritte. Ein Hauptproblem ist, dass viele Gläubige das Gefühl haben, dass sich in der Kirche nicht wirklich etwas verändert“, glaubt Oliver Lahl. Die Menschen wenden sich aus seiner Sicht auch wegen der Missbrauchsskandale oder der Machenschaften des abberufenen Limburger Skandalbischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst von der Kirche ab. „Die Abgeltungsteuer ist deshalb nur der berühmte Tropfen für Austrittswillige gewesen“, sagt Lahl.

Auch wenn der Rückgang in der Katholischen Kirche in Stuttgart im Vergleich zu den evangelischen Gemeinden noch moderat verlaufen ist, gibt Christian Hermes den Mahner: „Für uns wird es auch noch ernüchternde Tage geben.“ Der katholische Stadtdekan weiß, dass man derzeit noch von den Zuwanderern aus den katholisch geprägten Ländern der Europäischen Union, etwa aus Polen, Spanien, Italien oder Portugal, profitiere. In den kommenden Jahren rechnet auch er mit fallenden Mitgliederzahlen und Einnahmen durch die Kirchensteuer: „Die Angehörigen der sogenannten Babyboomer-Generation, die noch eine überdurchschnittliche Kirchenbindung aufweisen, scheiden dann aus dem Berufsleben aus und werden weitaus weniger oder keine Kirchensteuer mehr bezahlen.“ Deshalb müsse die Kirche auch sorgfältig mit den aktuell positiven Kirchensteuerzuweisungen umgehen. „Wir bekommen eine zweite Luft, die uns gerade nicht leichtsinnig oder übermütig machen darf, sondern anstacheln muss, jetzt so gut wie möglich vorzusorgen“, sagte Christian Hermes.