Sozialdemokratische Legenden: Erhard Eppler (links) und Hans-Jochen Vogel Foto: dpa

Die Sozialdemokraten feiern in Stuttgart den 90. Geburtstag ihres großen Vordenkers Erhard Eppler. Es ist ein Familienfest mit selbstkritischen Gedanken: Parteichef Sigmal Gabriel sorgt sich, dass die SPD die Menschen im „elitären Dialog“ noch erreicht.

Stuttgart - Es kann sein, dass ich mit 90 Jahren eine Menge dazu gelernt, aber das Zählen verlernt habe“, scherzt Erhard Eppler. Kurz zuvor hat ihn das Publikum durch Zurufe korrigiert, nachdem er betont hatte: „70 Jahre alt zu werden ist kein Geschenk, sondern eine Gnade.“ Ein Versprecher natürlich, aber irgendwie bezeichnend: Epplers schon vor Jahrzehnten entwickelte Überzeugungen sind zeitlos gültig – geradezu aktueller denn je.

Umso inniger feiert die SPD den Mann im Foyer des Stuttgarter Landtags: als „Gewissen der Partei“, als „politischen Visionär“ und „Vorbild für kommende Generationen“. Der Rahmen ist des Jubilars würdig, denn es werden nicht nur Lobeshymnen ausgeschüttet, sondern auch ernsthafte Überlegungen zur Abwehr der globalen Plagen angestellt. Die frühere Bundespräsidentenkandidatin Gesine Schwan, der renommierte Wissenschaftler Dirk Messner und Porsche-Betriebsratschef Uwe Hück als Genosse mit Herz diskutieren.

Gabriel moniert den „elitären Dialog“

Es ist ein nachdenklich machendes Familienfest der Sozialdemokratie, die sonst wenig zu feiern hat. Gekommen sind etliche Parteigranden – allen voran der Parteichef. Sigmar Gabriel findet von allen Titulierungen Epplers eine besonders gut: „Du bist ein bewahrender Avantgardist.“

Beide eint politische Zuneigung – und beide machen sich angesichts der Populismuswelle große Sorgen um ihre Partei: „Die Sozialdemokratie hat sich sehr stark über den Erfolg ihrer Politik akademisiert“, moniert der Vorsitzende den „elitären Dialog“ mit dem Wahlvolk (den die Rechtspopulisten aufgebrochen haben). Die sozialdemokratische Erzählung vom Aufstieg durch Bildung zeige einem Teil der Menschen wie dem Altenpfleger oder der Tengelmann-Verkäuferin: Du gehörst nicht dazu. Denn beide könnten nicht aufsteigen. „Erreichen wir die Menschen noch?“, fragt Gabriel. Die SPD müsse im Alltag zeigen, „dass sie die Menschen mit ihren Sorgen und Sehnsüchten wahrnimmt“ – selbst wenn diese den langfristigen Zielen wie ökologische Nachhaltigkeit und wirtschaftlicher Erfolg noch nicht folgen könnten. Es gelte, die „kulturelle Spaltung“ zu überwinden.

„Unendliche Dankbarkeit“ für Willy Brandt

Erhard Eppler ergänzt, seit 20 Jahren versuche er, klar zu machen, dass der geordnete Staat keine Selbstverständlichkeit mehr ist. „Immer mehr Staaten zerfallen.“ Auch in Europa werde man da schwer aufpassen müssen. Auf Dauer werde es keine innere Sicherheit ohne soziale Sicherheit geben, stellt der ewiger Mahner fest.

Mittlerweile sei er dankbar, sagt Eppler. „Das war ich nicht immer in meinem Leben.“ Somit dankt er vor allem dem letzten alten Weggefährten: dem ebenfalls 90-jährigen Hans-Jochen Vogel, der an Parkinson erkrankt ist und im Münchner Seniorenstift Augustinum lebt, aber dennoch nach Stuttgart gekommen ist. Zudem dankt Eppler drei Männern der Vergangenheit: Gustav Heinemann, Fritz Erler sowie Willy Brandt, der ihn damals zum Entwicklungsminister gemacht hatte. Zum Altkanzler sagt Eppler: „Dass er mir gelegentlich vertraut hat – sogar wenn er dafür öffentlich kritisiert wurde –, dafür bin ich ihm unendlich dankbar und ein klein bisschen stolz.“

„Glaubt ja nicht, dass die SPD altmodisch ist“

Sechs Enkel hat der Jubilar. Eine, Anne Rothaupt, musiziert im Landtag mit dem Mann ihrer erkrankten Schwester Johanna Wiebusch. Eppler ist Familienmensch. Mit seiner Frau Irene ist er seit 1951 verheiratet. Gerade ist sein siebter Urenkel geboren worden. Sollten die Nachfahren so alt werden wie er, würden sie das 22. Jahrhundert erleben. „Wenn ich denke, was da noch alles offen ist“, sinniert er düster, „ob das Experiment Mensch auf diesem Globus gelingt oder nicht.“ Auf die jungen Sozialdemokraten käme daher eine noch größere Mission zu, mit einer „Potenzierung der Verantwortung“. Der 90-Jährige mag seinen gut 50 Büchern noch die eine oder andere Schrift hinzufügen. Doch hört es sich schon an wie ein politisches Vermächtnis, wenn er die Genossen antreibt: „Glaubt ja nicht, dass die SPD altmodisch und überholt ist.“ Womöglich „steht sie vor neuen, für diese Gesellschaft entscheidenden Antworten“.