Paul Bergmann hat bei Kriegsende Tagebuch geschrieben. Foto: Christian Hass Stuttgart

Wie haben Baden-Württemberger das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt? Wir veröffentlichen in Auszügen Erinnerungen unserer Leserinnen und Leser.

Stuttgart - Eine „heitere Grundstimmung“ wird Paul Bergmann im Schulzeugnis aus dem Jahre 1940 bescheinigt – und er hat sie sich bis heute bewahrt, trotz einer Kindheit im Zweiten Weltkrieg. 1931 geboren, wuchs er mit zwei älteren Schwestern und einem jüngeren Bruder in Fellbach auf. Viele Dokumente aus dieser Zeit hat er aufbewahrt. Bergmann schlägt vorsichtig ein kleines Büchlein auf, eng beschrieben mit kindlicher Schrift. „Mit 13 Jahren habe ich 1944 begonnen, Tagebuch zu schreiben“, erzählt er. Was es zu essen gab, was in der Schule passierte, wie das Wetter war – er hat Alltägliches ebenso festgehalten wie die Luftangriffe der Alliierten, das Ende des Krieges und die Besatzung der Amerikaner und Franzosen.

Bergmann war Jungenschaftsführer im Jungvolk. „Uns wurde immer eingetrichtert, dass es einfach dazugehört, Soldat zu sein“, erzählt er. Sein Zeichenheft zeugt davon, wie sehr die Kinder der NS-Propaganda ausgesetzt waren: Rote Hakenkreuzflaggen und Kriegshandlungen zieren die Seiten. „Man hat uns genau gesagt, was wir zeichnen sollen.“ Auch in den Schulaufsätzen ging es um Kriege und Waffen. Als sich die Alliierten der Stadt näherten, vergrub der Junge seine Hitler-Jugend-Unterlagen im Garten, unter der Besatzung verbrannte er sie schließlich aus Angst.

Was bedeutete das Kriegsende für ihn? Bergmann überlegt kurz. Dann sagt er: „Dass man keine Angst mehr haben muss. Dass es mehr zu essen gibt. Dass etwas Neues kommt.“ Doch zunächst machte sich Enttäuschung breit. „Tatsächlich gab es noch weniger zu essen, es gab Ausgangssperren und Übergriffe der alliierten Soldaten. Das war ein Schock“, beschreibt Bergmann die Situation direkt nach Kriegsende.

Gerade die Franzosen hätten geraubt, geplündert und vergewaltigt. Insofern sei es eine Erleichterung gewesen, als Fellbach schließlich unter amerikanische Besatzung fiel: „Aber nun sind wir endlich amerikanisch“, schrieb Bergmann am 19. September 1945 in sein Tagebuch. Damals fing für ihn „der wirkliche Friede“ an.

Es sei zunächst schwierig gewesen, mit der neuen Freiheit umzugehen. „Wir wussten ja vorher gar nicht, dass wir unfrei waren. Wir kannten es bis Kriegsende gar nicht anders“, erklärt Bergmann. Sein christlicher Glaube hat ihm schließlich Orientierung gegeben. Bereits unter der Naziherrschaft hatte seine Mutter ihn evangelisch erzogen. „Der Glaube war mir immer sehr wichtig, schon im Krieg. Bei den Luftangriffen haben wir im Keller gebetet“, sagt er.

Welche Gräueltaten die Nazis begangen hatten, konnte Bergmann zunächst nicht glauben. In der Schule musste er einen Film darüber ansehen. „Das war so entsetzlich, dass ich es sofort verdrängt habe“, gibt er zu. Auch im Elternhaus spielte das Thema nie eine Rolle. „Als Kinder hatten wir zu gehorchen, wir kamen gar nicht auf die Idee, Fragen zu stellen.“ Bei seiner Mutter, sagt Bergmann, sei jedoch eine gewisse Abneigung gegen das Regime spürbar gewesen.

Heutzutage, hat Bergmann den Eindruck, seien Zeitzeugen von damals „weniger gefragt“. Doch für den 83-jährigen Großvater sind die Kriegserlebnisse noch immer sehr präsent. „Ich gehe zum Beispiel ungern auf Feuerwerke. Die Knallerei ist mir zuwider.“

„Jetzt kommt dann bald der Friede“

Auszüge aus Paul Bergmanns Tagebuch (teilweise gekürzt, ansonsten aber unverändert):

Sonntag, den 22. 4. 1945 Es ist ein richtiges Aprilwetter. Strom ist weg. Ich schlief bis 11 Uhr. Heute erfuhren wir, daß sich Stuttgart und Umgebung gestern Abend um 22 Uhr übergeben hätte. Dieser Befehl kam aber nicht nach Waiblingen, deshalb schoßen sie noch nach Fellbach. Es fuhren Panzer und Autos auf der Landstraße voll mit Amerikanern Richtung Stuttgart. (. . .) Der Stadtkommandant der Stadt Fellbach gab bekannt, daß 1. Wer im Besitze einer Waffe, Seitengewehrs, Fotoapparats und Fernrohrs ist, muß sie bis morgen 8 Uhr in der Schule an der Lutherkirche abgeben. 2. Wehrmachtsangehörige müssen sich ebenso melden. Man darf keinen Wehrmachts-angehörigen beherbergen. 3. Ab Montag ist die Ausgangszeit der Zivilbevölkerung folgende: Von 7–9 Uhr, mittags von 15–19 Uhr. In dieser Zeit darf man auf der Straße bleiben.

Mittwoch, den 25. 4. 1945 Heute kamen wieder neue Truppen. Wir mussten aus unserem Haus. Die ganze Nachbarschaft half uns. Wir gingen in die Wohnung von (. . .) Berlin sei topfeben, es würde nichts mehr stehen, in München seien Straßenkämpfe, in drei Tagen sei es mit Deutschland aus. Hoffentlich ist das alles nicht wahr. (. . .)

Mittwoch, den 02. 05. 1945 Ich schlief gut. Papa sagte mir: Gestern Abend um 11 Uhr kam durch, daß der Führer gestern Mittag auf seinem Gefechtsstand gefallen ist. Ich aß heute Morgen alles zugeteilte Brot. Heute Mittag gab es Kartoffelsalat, (vorneweg eine Suppe), Soße mit Eibröckel drin. (. . .)

Donnerstag, den 03. 05. 1945 Opas Geburtstag. Opa wird jetzt 69 Jahre alt. Heute Morgen haben wieder einige Leute Wein geplündert. Sie sind auf dem Rathaus zur Schau gestellt. Die Ausgangszeit ist ab sofort wieder folgende: Von morgens 7 Uhr bis abends 7 Uhr. Heute Mittag gab es Spinat, Kartoffeln. Als Nachtisch Rhabarbergrütze. Nachmittags waren wir an der Landstraße und schauten den amerikanischen Autos zu. Da gibt es große Spezialwagen, die bis zu 30 Gummireifen haben. Berlin hat sich ja ergeben. Jetzt kommt dann bald der Friede. Abends gab es Bratkartoffeln mit Salzgurken, Essiggurken und in Essig gelegte Kürbisse. (. . .)

Dienstag, den 08. 05. 1945 Heute Morgen grub ich die HJ-Sachen aus, obwohl es Mutti verboten hatte. Mutti schimpfte und gab mir eine hinter die Ohren. Ich behielt die Büchlein zurück und gab nur die Zeitungen her. Die Büchlein tat ich in eine Schachtel auf der Bühne. Mutti wäscht. Papa muß ab heute Morgen beim Schneck arbeiten (. . .) Dann hörte ich Nachrichten vom Radio Luxemburg. Es hieß u. a.: Die Kapitulation tritt am Mittwoch, den 9. Mai 1945 um 0.01 Uhr in Kraft. Als Siegestag gilt der heutige Tag.

Donnerstag, den 10. 05. 1945 Himmelfahrtstag. (. . .) Wir werden jetzt endgültig amerikanisch. Prima, sehr gut! (kat)