Vor 60 Jahren feierlich eröffnet: das neue Stuttgarter Rathaus Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

„Ein Wahrzeichen ist es nicht geworden“, notierte ein Berichterstatter zum 25. Geburtstag des neuen Stuttgarter Rathauses 1981. Ein Ausrufezeichen war und ist das Gebäude allerdings schon. Heute vor 60 Jahren wurde es eröffnet.

Stuttgart - War das ein Fest. Und ein Menschenauflauf. Am 4. Mai 1956 versammelte sich in Stuttgart alles, was Rang und Namen hatte, um das neue Rathaus feierlich zu eröffnen. 850 geladene Gäste. Von der Festversammlung im Gustav-Siegle-Haus zog man bei bestem Frühlingswetter durch ein Spalier von Menschen zum voll besetzten Marktplatz – an der Spitze Bundespräsident Theodor Heuss. Überall Blumen und Girlanden. Vom Dach des neuen Rathauses wehten Fahnen. Aus dem Turm ertönte erstmals das neue Glockenspiel.

Doch die Freude war nicht ungeteilt. Wiederaufbau des schwer beschädigten alten Rathauses oder ein Neubau – darüber war lange diskutiert und gestritten worden. Dabei war das alte Rathaus gar nicht so alt – jünger jedenfalls als das Neue heute ist. Mit seinen Erkern, Bögen und Wasserspeiern sah es nur alt aus. Von 1899 bis 1905 war es im Stil der flämischen Spätgotik errichtet worden – fast zeitgleich wie sein Pendant am Münchner Marienplatz. Alt, das war der Vorgängerbau gewesen – Stuttgarts erstes Rathaus, dessen Bau 1456 beschlossen wurde und das später mit einer Renaissance-Fassade versehen wurde. 1901 musste es – wie viele andere Gebäude auch – für den stadtbildprägenden Bau der Architekten Heinrich Jassoy und Johannes Vollmer Platz machen. Dieser stand nur 39 Jahre lang. Bei den Bombenangriffen am 25. und 26. Juli 1944 brannte das Rathaus aus.

Zwei Stuttgarter Architekten

Wiederherstellen oder etwas Neues wagen? Diese Debatte wurde auch in den Stuttgarter Zeitungen geführt. Am Ende entschied sich der Gemeinderat für das „neue Bauen“. Nach Plänen der Stuttgarter Architekten Paul Schmohl und Paul Stohrer entstand das Rathaus von 1953 bis 1956 neu – zumindest zur Hälfte: Der Marktplatzflügel sollte die neue Sachlichkeit ausdrücken, die rückwärtigen Flügel wurden in Stand gesetzt und aufgestockt. Ein architektonischer Hybrid mit klarem Bekenntnis zur Moderne, 8,7 Millionen Mark teuer (umgerechnet rund 4,4 Millionen Euro).

Die kontroversen Debatten schimmerten noch in der Eröffnungsrede von Stuttgarts damaligem Oberbürgermeister Arnulf Klett durch: „Auch wenn alle Beteiligten ihr Bestes gegeben haben, kann ich nicht glauben, dass unser Rathaus so, wie es gebaut wurde, heute schon allen Bürgern gefällt. Unsere heutige Zeit“, fuhr Klett fort, „hat noch keinen Baustil, der im Bewusstsein des Volkes lebt und deshalb der allgemeinen Anerkennung schon sicher wäre. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, inwieweit das Gebäude nach mehr als 50 Jahren eine höhere Wertschätzung erfährt . . .“

„Kein Befehlshaus, sondern ein Rathaus“

Gleichwohl hatte Klett die Hoffnung, das sich das neue Rathaus zu einem Wahrzeichen Stuttgarts entwickelt. In jedem Fall wurde es ein Ausrufezeichen im Sinne der Architekten, die „einen mutigen Schritt nach vorne tun“ wollten. Das drückte sich beispielsweise in der Anordnung des Ratssaals aus, der von außen deutlich sichtbar sein sollte. Die Botschaft, die sich damit verband, formulierte Klett so: „Dieses Haus soll nicht Befehlshaus sein, sondern Rathaus.“ Ein Ort demokratischer Willensbildung. Das neue Bauen stand zugleich für die autogerechte Stadt. Bis 1973 war der Marktplatz auch ein Parkplatz.

Die Wertschätzung, auf die Klett hoffte, wird dem 1958 und 1962 erweiterten und 2003/04 für knapp 27 Millionen Euro sanierten Gebäude mit seinen rund 200 Mitarbeitern heute durchaus entgegengebracht – es ist tatsächlich ein offenes Bürgerhaus geworden mit rund 1700 Veranstaltungen pro Jahr. Seine architektonischen Reize erschließen sich den Bürgern hingegen weiterhin erst auf den zweiten oder dritten Blick. Manchen auch gar nicht. Auf drei Besonderheiten sei hingewiesen:

Turm, Stuttgardia, Festraum – drei Besonderheiten

Turm: Der Turm ist im Kern der alte. Er trägt nur einen Mantel – gefertigt aus hellem Korallenfels von der Schwäbischen Alb. Ursprünglich war er 68 Meter hoch, beim Umbau schrumpfte er auf demütige 60 Meter – um dem Stiftskirchenturm mit 62 Meter den Vorrang zu lassen. Aus 30 Glocken erklingen fünf Mal am Tag (11.05, 12.05, 14.35, 18.35 und um 21.35 Uhr) Melodien aus einem 70 Stücke umfassenden Repertoire, meist schwäbische Weisen, arrangiert von einem eigenen Glockenspieler. Auch der Turm ist für die Öffentlichkeit zugänglich – allerdings immer nur für wenige Besucher gleichzeitig. Der Grund: Brandschutz; es herrscht dieselbe Problematik wie am Fernsehturm. Aus diesem Grund zerschlugen sich auch Überlegungen, im Turm ein Café einzurichten. Schade, denn der Blick ist grandios. (Führungen auf Anfrage unter: poststelle.raumbelegung.rathaus@stuttgart.de)

Stuttgardia: Sehenswert ist die von dem Bildhauer Heinz Fritz 1901 geschaffene Schutzgöttin Stuttgardia, Symbol des selbstbewussten Bürgertums. Für die 2,41 Meter große Bronzefigur stand eine junge Jüdin Modell, die 17-jährige Arzttochter Else Weil, die später vor den Nazis in die USA flüchtete. Dass die Stuttgardia Stuttgart vor dem Krieg und seinen schrecklichen Folgen nicht bewahrt hat, ist ihr nicht anzulasten. Sie selbst blieb übrigens nahezu unversehrt. Bilder nach dem Bombenangriff zeigen die Figur zentral an der Spitze des Maßgiebelwerks über dem Hauptportal thronend. Unverständlich bleibt, warum sie am neuen Rathaus später verschämt an der zur Hirschstraße gelegenen Seitenfassade angebracht wurde.

Die Anekdote vom Tennisschläger

Festraum: Der Raum, von dem aus erfolgreiche Stuttgarter Fußballmannschaften, wenn es solche gäbe – ähnlich wie in München auf den Balkon treten könnten –, um sich feiern zu lassen, ist die eigentliche Schatzkammer des Rathauses. Das große Glasfenster darin, vom Marktplatz aus nicht wahrnehmbar, stammt von Ida Kerkovius. Ein Farberlebnis.

Anekdoten: Ja, die gibt’s reichlich. Da ist der emsige Mitarbeiter, der eine Palette Milchtüten in einem der drei Paternoster transportieren wollte und ein Milchbad verursachte, das zur vorübergehenden Schließung des beliebten Beförderungsmittels führte. Oder da ist der junge Jurist vom Rechtsamt der Stadt, der in den siebziger Jahren die Mittagspause nutzte, um in seinem Büro den neu erworbenen Tennisschläger zu testen. Seinem Aufschlag fiel eine Ballonleuchte zum Opfer, die den Krieg unbeschadet überstanden hatte. Verjährt, aber nicht vergessen . . .

Wie wär’s mit einer Broschüre?

Dies und vieles mehr wäre es wert, in eine Broschüre für Rathausbesucher einzufließen. Leider findet sich an der sonst üppig bestückten Infothek hinter dem monumentalen Eingangsportal dazu nichts. Ein paar Zeilen über Stuttgarts wenig wahrgenommene Wahrzeichen, das wäre doch ein schönes Geburtstagsgeschenk oder sagen wir: eine überfällige Aufmerksamkeit.

Tipp: Im Stuttgarter Stadtarchiv, Bellingweg 21, hält der Leiter der Denkmalschutzbehörde Dresden, Bernhard Sterra, heute um 19 Uhr einen Vortrag mit dem Titel: „Autonom und beziehungsreich – das Stuttgarter Rathaus von 1956 als Dokument und Monument.“ Der Eintritt ist frei.