Szene aus dem Kurzfilm „Justice has been done“ Foto: Filmwinter

Was ist Realität? Sieht sie womöglich ganz anders aus als das, was wir dafür halten? Scheinbare Gewissheiten zu dekonstruieren und neue Wahrnehmungen anzuregen: Das ist dem Film- und Medienkunstfestival Filmwinter in seiner 29. Ausgabe wieder gelungen.

Der Mensch schaut bekanntlich selten ganz unvoreingenommen auf eine ihm neu begegnende Sache, seine Wahrnehmung ist von Rastern, Kategorien, Stereotypen vorgeprägt. Umso schöner ist es, wenn solche kognitiven Muster durchbrochen werden. So mag allein der Name Teatrino Elettrico eines Bologneser Künstlerprojekts bei manchen Besuchern durch den Klang der Worte Assoziationen von Putzigkeit hervorgerufen haben, die dann bei der audiovisuellen Performance des Duos am Samstagabend im Foyer des Theaters Rampe in kürzester Zeit pulverisiert wurden: Ein infernalischer Geräusch-Bilder-Cocktail, Fabriklärm und elektronisch verzerrte Töne in rudimentärem Maschinenrhythmus, die teils an frühe Bands des Industrial-Genres wie Throbbing Gristle oder Einstürzende Neubauten erinnern und oft hart an der Schmerzgrenze sind.

„Ceci n’est pas une Musique“ („Dies ist keine Musik“) war passend der Titel der Performance, pfiffig den Surrealisten René Magritte zitierend, der die Zeile „Ceci n’est pas une pipe“ („Dies ist keine Pfeife“) unter sein berühmtes, eine Pfeife zeigendes Gemälde „Der Verrat der Bilder“ gesetzt hatte. Magritte habe damit betonen wollen, dass selbst eine realistische Abbildung eines Objekts nicht mit dem Objekt identisch ist.

Nichts ist eindeutig

Was ist überhaupt Realität? Sieht sie vielleicht ganz anders aus als das, was wir dafür halten? Solche Fragen zu stellen und neue, auch zum gesellschaftlichen Mainstream konträre Wahrnehmungen anzuregen gehört glücklicherweise immer noch zum Selbstverständnis vieler Künstler. Der am Sonntag zu Ende gegangene 29. Stuttgarter Filmwinter, treffender charakterisiert durch den Zusatztitel „Festival for Expanded Media“, hat dies wieder einmal mit vielen so unterschiedlichen wie anregenden Werken aus den Bereichen Film- und Medienkunst demonstriert. Vertieft wurde dieser Fokus durch die Programmreihe zum Festivalmotto „Formwandler“. Akuten sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungsprozessen, dem Ende der Eindeutigkeit in vielen Bereichen sollten sich diese Veranstaltungen auf unterschiedlichste Weise widmen.

Dass zum Auftakt der Reihe am Freitag im Kunstraum 34 ein recht konventionell gemachter Dokumentarfilm gezeigt wurde, war nur auf den allerersten Blick erstaunlich. In „Digitale Dissidenten“ porträtiert Filmemacher Cyril Tuschi mehrere Whistleblower wie die ehemaligen NSA-Mitarbeiter Edward Snowden, Thomas Drake und William Binney sowie den Journalisten Daniel Ellsberg, außerdem den Wikileaks-Gründer und Transparenz-Aktivisten Julian Assange. Deren Aussagen kondensiert der Film zu zentralen Fragen: Haben wir es in einem System, das Massenüberwachung praktiziert, noch mit einer Demokratie zu tun? Lässt nicht eher die mit vermeintlichen Sicherheitsinteressen begründete, intransparente Datensammelwut des Staates alle Aktivisten für die in demokratischen Verfassungen garantierten Menschenrechte zu Dissidenten werden? Und welche Folgen kann das Leben in einer Überwachungsgesellschaft haben, selbst wenn man die Überwachung nicht unmittelbar spürt?

Wiederkehrende Themen beim Kurzfilmwettbewerb

Den größten Publikumsandrang verzeichnete indes der Kurzfilmwettbewerb, und neben rein formalen Experimenten waren die jeweiligen Rollen meist so komponiert, dass man einige wiederkehrende Themen ausmachen konnte. Etwa Wohn- und Lebensräume im siebten Programm am Samstagabend.

So dokumentiert Laura Engelhardt etwa in „Bauangriff“ den Zyklus von Baumaterial im Umland von Peking: Um Investorenbauten Platz zu machen, werden immer wieder komplette Ortschaften umgesiedelt, die Bewohner können aber die Höhe der Entschädigungen durch die Höhe der auf ihren Grundstücken liegenden Bauten mitbestimmen. So entstehen reihum völlig ungenutzte, nur in die Höhe gebaute Mauerstrukturen, deren Ziegel von Abrissgebiet zu Abrissgebiet wandern. Ein Kreislauf, der durch Engelhardts virtuose Kombination mit Fetzen der knallbunten Hochglanz-Videos aus den U-Bahnen, die in die Neubaugebiete führen, noch absurder wirkt.

Wie kann man so leben, mag man sich da fragen, aber vielleicht ist der Blick anderer auf uns ja ähnlich verblüfft. Dass die Realität möglicherweise vielgestaltiger als unsere Wahrnehmungsraster ist, daran hat der Filmwinter mal wieder erinnert.