Der erste offizielle CSD im Jahre 2001. Foto: CSD IG

Als Straßentheater mussten sie sich tarnen, um sich zeigen zu dürfen. 1979 demonstrierten die Schwulen und Lesben Stuttgarts erstmals für ihre Rechte. Damals flogen Eier. Heute gehört die CSD-Parade zu Stuttgart wie der Fernsehturm.

Stuttgart - Als Straßentheater mussten sie sich tarnen, um sich zeigen zu dürfen. 1979 demonstrierten die Schwulen und Lesben Stuttgarts erstmals für ihre Rechte. Damals flogen Eier. Heute gehört die CSD-Parade zu Stuttgart wie der Fernsehturm.

Es ist 21 Jahre her, dass Homosexualität in Deutschland strafbar war. Es ist 26 Jahre her, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO Homosexualität von der Liste der psychischen Krankheiten strich. Es ist 36 Jahre her, dass sich die Schwulen und Lesben in Stuttgart erstmals öffentlich zeigten; deklariert als Straßentheater feierten sie auf dem Schlossplatz den „Homobefreiungstag“. Und es ist 15 Jahre her, dass erstmals die Parade zum Christopher Street Day (CSD) durch Stuttgarts Straßen zog. 2001 hatten zehn Vereine die CSD Interessengemeinschaft gegründet, wie das etwas sperrig heißt. Der Verein sollte fortan die Parade organisieren, nachdem man zuvor nur sporadisch durch die Stadt gezogen war. Christoph Michl, Vorstand des Vereins, war von Anfang an dabei. Er erinnert sich: „Das waren ein paar hundert Teilnehmer, vor allem aus der schwul-lesbischen Gemeinde. 5000 Leute haben zugeschaut.“ Am 30 Juli 2016 bei der 15. Auflage werden gut 4500 Menschen mitlaufen und mitfahren, Vertreter fast aller Parteien, die Polizei, Daimler, Bosch, schwule und lesbische Fußballfans sind dabei, 200 000 Besucher werden erwartet. Michl: „Wir feiern die Vielfalt dieser Stadt.“ Wir Schwaben stellen ja gerne unser Licht unter den Scheffel, heute geben wir uns mal arrogant und sagen selbstbewusst: Liebe Berliner, Stuttgart ist reich und sexy.

Zu sexy für manche. Zügellos und schamlos sei die Stadt, schimpfte man vor zehn Jahren in Biberach, Spaichingen und Tuttlingen. Unser Stuttgart? Ja, tatsächlich! Von wegen behäbig, langweilig und prickelnd wie stilles Wasser, im ländlichen Sittendezernat nannte man Stuttgart mit Sodom und Gomorrha in einem Atemzug, sah die apokalyptischen Reiter n mit den Hufen scharren, weil CDU-Sozialminister Andreas Renner Schirmherr des CSD war. Renner ließ sich nicht beeindrucken, was ihm Michl bis heute hoch anrechnet. Auch viele andere zeigten Gesicht: Heiner Geißler, Ute Kumpf, Rezzo Schlauch, Cem Özdemir, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Herta Däubler-Gmelin, Erwin Staudt, Wolfgang Schuster waren Schirmherren und Schirmfrauen. Es gab da zwar mal einen Provinzpolitiker aus Pforzheim namens Stefan Mappus, der die Parade als „abstoßende, frivole und karnevaleske Zurschaustellung sexueller Neigungen“ bezeichnet hat. Doch die konservativen Reflexe wirken heute so bemüht wie der obligatorische Auftritt der Handvoll Pius-Brüder, die ihren Protest gerne mit dem Widerstand der Kirchen gegen Hitler vergleichen. Die CDU stellt mit Stefan Kaufmann seit Jahren einen schwulen Bundestagsabgeordneten und fuhr beim CSD mit unter dem Motto: „Muttis GAYle Truppe.“

Braucht es den CSD noch?

Braucht es den CSD da noch? Hat man sich nicht selbst überflüssig gemacht? Wegen großen Erfolgs eingestellt?! Der CSD erinnert an den 28. Juni 1969. Damals hatten die New Yorker Schwulen und Lesben genug von der Willkür der Polizei, die sie immer wieder drangsaliert, verprügelt und verhaftet hatten. In der Christopher Street im Stadtviertel Greenwich Village wehrten sie sich erstmals und zeigten : So nicht! In Stuttgart tanzten nie die Schlagstöcke, aber als sich die Schwulen und Lesben 1979 erstmals in die Öffentlichkeit wagten und demonstrierten, erhielten sie die Genehmigung nur, weil sie sich als Straßentheater tarnten. Prompt warfen brave Bürger Eier und geiferten. 2001 bei der ersten CSD-Parade marschierte die NPD auf. Die Stadt genehmigt die Demo, verfügte aber, dass die Neonazis die Schnürsenkel aus den Springerstiefeln nehmen mussten.

Doch heute droht doch keiner mehr mit Schlägen und dummen Parolen, alles paletti also? „Wir haben viel erreicht“, sagt Michl, „und die Themen sind sperriger geworden.“ Aber man müsse immer wieder um Errungenschaften kämpfen. Teilnehmer der sogenannten Demo für alle würden offen homophob auftreten. Und so mancher Politiker der AfD hetze offen gegen Minderheiten. „Die gleichen Leute, die uns schmähen, fordern von Flüchtlingen ein Bekenntnis zu den deutschen Werten, und meinen damit die Rechte von Schwulen und Lesben.“ Das sei absurd Natürlich fragen wir uns: „Wie gehen wir damit um?“ Auch für die Ehe für alle und das Adoptionsrecht werde man sich ins Zeug legen. „Die Themen gehen uns nicht aus“, sagt Michl, „wir bleiben politisch.“ Das werde man heute beim Neujahrsempfang (19.30 Uhr) in der SpardaWelt am Hauptbahnhof unterstreichen. Der CSD ist mehr als Karneval. Die Kostüme, der Fummel und das Leder sind auch Mittel zum Zweck: Man soll zuschauen – um zuzuhören.